Badische Zeitung, Montag 17. März 2014, Seite 28
„Ich bin in meiner Seele afrikanisch “
„Ich reise immer alleine“, sagt Boyan Behrmann, „denn nur so
erlebt man viel und ist offen für Begegnungen und Eindrücke.“
In wenigen Tagen wird die weltgewandte Autorin 75. Und ihre Lust aufs
Unterwegssein, auf Begegnung, auf Orte und Menschen ist ungebremst. Dass
sie über all die Jahre mit Heiterkeit und Mut das Nomadische in ihrem Leben
erhalten hat, ist nicht selbstverständlich. Denn schon als Kind machte sie
die trostlose Erfahrung, dass andere sie entwurzelten. Reisen war für sie
nicht erwartungsvoller Aufbruch, sondern schlichtweg Angst.
Erst rückblickend verstand Boyan Behrmann, dass die irrwitzigen Zumutungen
ihrer Kindheit und ihrer Jugend prägende Traumata waren: alleingelassen
unterwegs und in unbekannter Umgebung fremd sein. Aufgeschrieben hat sie das
alles Jahrzehnte danach in ihrem autobiographischen Buch „Maria - das
Mädchen im Zug“. Maria heißt in ihrem echten Leben Boyan Karen
Merry Joyce und wird mit acht Jahren von ihren deutschen Eltern in Hamburg
tatsächlich in den Zug gesetzt. Ihr Vater schickt das völlig ahnungslose
Mädchen nach Südafrika in das Internat einer Missionsschule. Sie
ist während eines längeren Arbeitsaufenthalts der Eltern im
südafrikanischen Durban geboren und hat als einzige in der Familie
einen südafrikanischen Pass.
Die achtjährige Tochter soll also durch ihre Rückkehr den Weg ebnen
für eine Einwanderung der Familie. „Diese Einwanderung fand dann aber
gar nicht statt“, erzählt Boyan Behrmann. Was in ihrem Leben auch nie
wahr wurde, war ein Gefühl von „Heimat“. „Ich hatte das
nie“, beschreibt sie diese Abwesenheit von Verortung, „ich konnte
nur spüren, wo ich mich wohlfühle.“ Ihr Glück und eines
ihrer Talente ist, dass sie dieses Wohlfühlen unter allen
Umständen herstellen kann: „Meine Unterkunft ist mein Refugium, egal
ob für ein paar Jahre im nonnengeführten Internat, ob in der Wohnung
in Dakar, in Buenos Aires oder im Gästezimmer in Sansibar.“ Das Refugium
macht sie zu einer erquickenden Oase - nicht als designerschicke Umgebung,
sondern als origineller Ort, an dem Wohlbefinden und Wonne zuhause sind.
Ohne diese Begabung, sagt Boyan Behrmann, hätte sie weder der
ersten „Verschickung“ noch den weiteren Weisungen und Abweisungen
standhalten können. Zum Beispiel dem Internat in England oder dem Jahr
als Haushilfe in Chile. Schließlich lagen die elterlichen Demissionen
hinter ihr - und sie reüssierte schon als 20-jährige beruflich: Sie
wurde „Bodenchefin“ im Senegal - und hatte als Überlebenstechnik
vor allem eines im Gepäck, sich anzupassen, um als Fremde in der Fremde
nicht zurückgewiesen zu werden: „Diese Angst vor Zurückweisung
zieht sich durch mein Leben.“ Zugleich war da aber auch die unerschrockene
Offenheit, das Erkunden ohne Ressentiments - die Befreiung aus der Opferrolle
schien gelungen.
In Dakar aber wartete ihrer erste Malaria. Und der Mann, den sie schließlich
heiratete. Der Argentinier hatte sie „erwählt“, sie hatte
Schuldgefühle - und erfüllte wie gewohnt die Erwartungen, die an sie
gestellt wurden. Mit ihrer kleinen Tochter verließen die beiden nach sechs
Jahren Dakar und zogen nach Buenos Aires - dort kamen in den folgenden Jahren
ihre drei Söhne zur Welt. Ihren vier Kindern ein verlässliches Zuhause
zu schaffen, war ihr größtes Anliegen - ihre eigene Kindheit in steter
Verunsicherung sollte sich nicht wiederholen. Und doch verließ sie nach 25
Jahren ihren Mann und zog - bei Nacht und Nebel - mit ihrem Jüngsten nach
Deutschland. Die anderen Kinder waren da schon erwachsen.
Menschen in ihrem Eigenwert bestätigen
Hier habe sie sich endlich aufgerichtet, hier habe sich endlich
Selbstwertgefühl eingestellt: „Nach einem langen Weg des Funktionierens,
um zu Überleben, habe ich endlich die Weichen anders stellen können -
seither ist das mein Anliegen, Menschen in unterdrückten Lebenslagen in ihrem
Gefühl für ihren Eigenwert zu bestärken.“ Die Entwertung
von Menschen, die unterdrückt sind, muss man nicht hinnehmen, sagt Boyan
Behrmann, egal ob Frauen oder Angehörige einer Rasse oder einfach Menschen,
die mit ihrem Namen auffallen, weil sie aus einer anderen Region stammen. Um
anderen Mut für ihren Eigensinn zuzusprechen, hat sie „Maria“
geschrieben. Und nie hat sie aufgehört, zu reisen und auf andere zuzugehen.
„Wenn ich unterwegs bin, fühle ich mich am allersimpelsten und
selbstverständlichsten als Kind dieser Erde.“ Am nächsten ist
ihr Afrika. Vielleicht, weil sie dort einst zur Welt kam. Aber vor allem ist da
eine Verbundenheit, sagt sie: „Ich bin in meiner Seele afrikanisch.“
Afrikanisches umgibt sie alle Zeit: Boyan Behrmann.
FOTO: MICHAEL BAMBERGER
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Badische Zeitung. Dienstag, 14. Januar 2003
„Überall Rollen gespielt.“
BZ Interview mit der Autorin Merry Joy Boyanne
LITTENWEILER. Boyan Behrmann wurde als Achtjährige von ihren Eltern nach
Südafrika geschickt, um der Familie die Einwanderung zu erleichtern. Nach
dieser Erfahrung völlig entwurzelt, lebte sie nacheinander in England, Senegal
und Argentinien. Inzwischen ist sie in Freiburg zur Ruhe gekommen und hat unter
dem Pseudonym Merry Joy Boyanne ihre Erinnerungen aufgeschrieben.
BZ-Mitarbeiterin sprach mit ihr darüber.
BZ: Was hat sie dazu bewogen, ein Buch über ihre Geschichte zu
schreiben?
Boyan: Es war mir ein Bedürfnis, das alles herauszuschreien.
Jahrelang hatte ich geschwiegen und mich fremd bestimmen lassen, ich wollte
endlich den Mund auf machen.
BZ: Wer hatte über ihr Leben bestimmt?
Boyan: Begonnen hat es mit meinen Eltern, die mich als kleines
Mädchen unwissend in einen Zug gesetzt und weggeschickt haben. Ich war ein
Brückenkopf in einem fremden Land. Als ich wieder zu ihnen kam, hatten meine
Eltern ein schlechtes Gewissen und schickten mich weiter in die Schule nach
England. Später folgte ich meinem Mann nach Argentinien und lebte dort
für ihn und meine vier Kinder.
BZ: Wie sind Sie aus dieser Fremdbestimmung schließlich
ausgebrochen?
Boyan: Ich habe gelernt, selbstbewusst zu sein und Selbstwert zu entwickeln,
mich von meinem Mann getrennt und bin nach Deutschland gezogen. Dort musste
ich erst einmal meine Identität kennen lernen. Wenn man sich in anderen
Ländern einleben will, muss man seine Identität aufgeben. Wie eine
Schauspielerin habe ich in jedem Land meine Rolle gespielt.
BZ: Haben Sie jetzt in Freiburg einen Ort gefunden, an dem Sie sich zu
Hause fühlen?
Boyan: Ich bin nicht in Freiburg verwurzelt, aber ich habe gelernt,
in mir selbst verwurzelt zu sein. Ich fühle mich wohl hier.
Merry Joy Boyanne liest am heutigen Dienstag um 20.15 Uhr im Schloss Ebnet
aus ihrem Buch “Maria, das Mädchen im Zug”, erschienen bei
Merch Movie Edition, 270 Seiten, 17 Euro.
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